Pädagogische Begründung des Aufrufs

I. … aus Fürsorge
Wir kommen mit dieser Forderung unserer Fürsorgepflicht gegenüber den betroffenen Kindern, Jugendlichen und Familien nach. Ihre Abschiebung hat in aller Regel katastrophale Auswirkungen auf ihre psychische und soziale Situation.

  1. Die Kinder und Jugendlichen werden mit der Abschiebung aus ihrem selbstverständlich gewordenen Lebensumfeld, aus einer als (mehr oder weniger) sicher erlebten Lebenssituation herausgerissen. Dies kann traumatisierend wirken.
  2. Die Kinder erleben die Familiensituation als verletzlich und ungeschützt. Sie wissen oder spüren zum einen aus den Erzählungen und Ängsten der Eltern, welch ausweglose Lage sie erwartet, insbesondere auch in Bezug auf die befürchtete Ausgrenzung und Diskriminierung als ethnische Minderheit. Zum andern trägt die Familie oft auch schon ein Bündel an Belastungssituationen mit sich: selbst oder familiär erlebte Traumata im Herkunftsland, Rassismuserfahrungen hier in Deutschland, der Umgang mit der ungewissen Perspektive und oft prekäre soziale Lebensverhältnisse.
  3. Nicht zuletzt bedeutet die Abschiebung oft den absoluten Bruch im Bildungsweg der Kinder und nimmt ihnen jegliche berufliche Perspektive in einem Land, zu dem sie oft überhaupt keine Beziehung haben und dessen Sprache sie nicht sprechen. Bei einer allgemeinen Arbeitslosigkeit von 60% und einem stark auf Beziehungsressourcen ausgerichteten Arbeitsmarkt im Kosovo haben die Familien in aller Regel nicht die geringste Chance, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Eine Abschiebung ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Abschiebung ins Elend mit der Perspektive des Lebens auf der Müllkippe.

II. … aus der Vertrauensbeziehung
Wir treten auch dann öffentlich gegen die Abschiebung der Kinder und Jugendlichen ein, wenn sie nach der geltenden Rechtsprechung möglich ist. Besonders schwer zu verarbeiten sind potenziell traumatisierende Belastungssituationen wie eine Abschiebung, wenn diejenigen, die als Vertrauenspersonen betrachtet werden, keinen Schutz bieten können. Für die Betroffenen ist es ein großer Unterschied, ob sie Solidarität und Empörung oder Gleichgültigkeit erfahren.
Dabei achten wir darauf, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu handeln. Wenn diese das wünschen,

  • unterstützen wir die Peergruppe der von Abschiebung bedrohten Kinder und Jugendlichen und schaffen Räume, in denen diese sich aktiv gegen die Abschiebung einsetzen können.
  • organisieren wir eine öffentliche Präsenz der professionellen Begleiter (Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen usw.) selbst.
  • unterstützen wir sie nach unseren Möglichkeiten bei den anstehenden Entscheidungen.

III. … aus Verpflichtung gegenüber allen Kindern
Wir handeln als Pädagog/innen in einer solchen Situation in pädagogischer Verantwortung gegenüber allen Kindern und Jugendlichen, für die wir zuständig sind. Auch für die nicht selbst Betroffenen ist die Erfahrung der Abschiebung einer Freundin oder eines Klassenkameraden unverständlich und bedrohlich. Es geht somit auch darum, der Ohnmachtserfahrung der Kinder etwas entgegen zu setzen.

  • Für andere Kinder mit Migrationshintergrund kann das Erleben der Abschiebung in unmittelbarer Nähe ein Gefühl prekärer Zugehörigkeit verstärken. Es ist eine pädagogische Aufgabe, hier Räume zu öffnen, um ihnen eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen und ängsten zu ermöglichen.
  • Eine geräuschlos vollzogene Abschiebung wirkt auf alle Kinder und Jugendlichen gewaltvoll. Wir werden mit Bemühungen zur Demokratieerziehung oder einer antirassistischen Bildung unglaubwürdig, wenn Kinder die Erfahrung machen, dass wir tatenlos zusehen, wie ihre Freundinn/en, die schon immer hier leben, jederzeit abgeschoben werden können.

IV. … aus historischer Verantwortung
Nicht zuletzt geht es auch um eine historische Verantwortung gegenüber den Roma. Es ist uns unerträglich, wie eine Gruppe, die im Nationalsozialismus von Ausgrenzung, Diskriminierung und Massenmord betroffen war, von einer bürokratisch geplanten Abschiebung bedroht ist.
Auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Verfolgungsgeschichte treten wir sowohl dafür ein, das Wissen darüber und die Erinnerung daran durch Bildungsarbeit zu fördern, als auch auf die Kontinuitäten des Antiziganismus in Europa und Deutschland hinzuweisen. Dass die Abschiebungen keineswegs mit der systematischen Verfolgung im Nationalsozialismus gleichzusetzen sind, ist Bestandteil unserer historisch-politischen Bildungsarbeit. Gerade weil die aktuellen Abschiebungen in einem demokratisch verfassten Staatswesen stattfinden, nehmen wir die Möglichkeit wahr, uns kritisch damit auseinander zu setzen.
über die Thematisierung der Abschiebepraxis können wir Räume schaffen für die Bewusstseinsbildung hinsichtlich aktueller rassistischer Praktiken und Denkweisen.

V. Ablehnung eines ausschließlichen Bleiberechts für Bildungserfolgreiche
Eine besondere Herausforderung für die pädagogische Praxis ist die neue Bleiberechtsregelung für Jugendliche (§ 25a Aufenthaltsgesetz), die ermöglicht, dass Jugendliche im Alter von 15-21 Jahren eine Aufenthaltserlaubnis für sich und auch für die Familie erreichen können, wenn sie in der Schule erfolgreich sind. Auch wenn dies für einzelne Familien eine Option eröffnen kann, ist diese Regelung aus pädagogischer Sicht abzulehnen. Lehrer/innen bringt dies in eine problematische Machtposition. Für die betroffenen Kinder ist es eine gravierende psychische überforderung. Der menschenrechtlich gebotene Schutz von Kindern und Jugendlichen kann nicht von der vermeintlichen oder tatsächlichen „Leistungsfähigkeit“ der Betroffenen abhängig gemacht werden. Kinder brauchen – unabhängig von ihrem Bildungsabschluss – Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung.
Problematisch ist die hinter dieser Regelung stehende Logik, dass bleiben darf, wer „uns“ nutzt. Wir setzen dagegen auf ein menschenrechtlich begründetes Bleiberecht.

Aufruf unterschreiben

Hier ist der Text des Aufrufs mit Begründung zum Download (PDF, 3 Seiten)

UnterzeichnerInnen

Redaktion: Andreas Foitzik, Andreas Linder, Claus Melter, Astrid Messerschmid, Lothar Wegner, Selcuk Yurtsever-Kneer